Bericht: Workshop „Demokratiedämmerung – Eine Kritik der Demokratietheorie“

Von Johanna Brunsing und Moritz Fromm

Die Demokratietheorie schaffe es nicht plausible Wege aufzuzeigen, wie die Devolution der Demokratie aufgehalten werden könne und befinde sich in einer Paradigmakrise. Ein ins Kraut schießender Begriffsapparat könne nur notdürftig verdecken, dass ihr der Gegenstand abhandenkommt. Diese Kernthese seines Buches „Demokratiedämmerung“ erläuterte Veith Selk bei einem Workshop, der am 08. Februar im Rahmen des Graduiertenkollegs stattfand. Während des Workshops wurden die grundlegenden Thesen des Buches im Lichte der Forschungsschwerpunkte des Graduiertenkollegs diskutiert.

Selks Buch stellt die demokratietheoretische Betrachtung von Praktiken und Ideen „guten Regierens“ – mit denen sich das Kolleg beschäftigt – grundsätzlich in Frage, in dem er Formen netzwerkartiger Governance grundsätzlich als nicht demokratisierbar versteht. Damit betrifft das Buch die normative Fragestellung des Kollegs, was die Etablierung von Standards des Regierens für die Demokratie bedeutet. Standards wirken in Governance-Netzwerken zunehmend regulierend und ergänzen oder ersetzen dabei klassische staatliche Regulierung durch Gesetze. Sie wirken nicht durch das Gewaltmonopol und eine demokratische Legitimation, sondern durch Rankings und Output-Legitimation. In den Governance-Netzwerken wird so auch das Verhältnis privater und öffentlicher Akteure verändert. Selk argumentiert dafür, diese Formen des Regierens nicht als demokratisch (misszu-)verstehen. An die theoretische Reflexion von Standards der Regierens stellt er die Frage, ob diese nicht vielmehr Teil der „Devolution der Demokratie“ sind.

Im Rahmen des Workshops gab es die Möglichkeit zur kritischen Debatte dieser These. Begrifflich diskutiert wurde zu Beginn die Verwendung des Begriffs der „Devolution“ und die Abgrenzung zu anderen Krisendiagnosen der Demokratie. Selk grenzt sich beispielsweise vom Begriff einer demokratischen Regression ab. Laut Selk geht es nicht um einen Rückfall demokratischer Regime in vordemokratische Zeiten, wie es der Begriff der Regression im Gegensatz zur Progression nahelegt. Es stellt sich vielmehr so dar, dass mit der Devolution der Demokratie eine mit der Modernisierung fortschreitende Entfernung vom demokratischen Ideal stattfindet. Neue Phänomene des Regierens – wie eine zunehmende Differenzierung der politischen Sphäre – stellen das demokratietheoretische Paradigma in Frage. Veith Selk formuliert allerdings keine rein empirische Nachzeichnung der demokratischen Devolution, sondern bietet eine Kritik der gegenwärtigen Demokratietheorie und regt zu einem kritischen Hinterfragen eingespielter theoretischer Paradigmen in der Politikwissenschaft an.

Die erste Diskussion des Workshops drehte sich um die „negativen Sperrklinkeneffekte“ der demokratischen Devolution, die eine Redemokratisierung strukturell verunmöglichen würden. Lea Radke fasste die Kernpunkte des dazugehörigen Kapitels 2.5 prägnant zusammen und führte zwei diskussionswürdige Punkte an: die historische Vergleichsfolie der Devolution und die Rolle der Europäischen Union als negativer Sperrklinkeneffekt. Zum einen scheint die These der Devolution der Demokratie auf dem Maßstab der drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zu fußen. Hier sei die Verbindung von Massendemokratie und organisiertem Kapitalismus am harmonischsten realisiert worden. Diesbezüglich wurde kritisch angemerkt, dass spätere progressive Entwicklungen durch eine solche Deutung verdeckt werden würden und so ein verzerrtes oder einseitiges Bild der Entwicklung der Demokratie gezeichnet werde. Selk wies den Eindruck, er orientiere seinen Begriff der Demokratie an den europäischen Nachkriegsgesellschaften, zurück, offen blieb aber letztlich ob die These der Devolution nicht schon begrifflich einen historischen Vergleichspunkt voraussetzt.

Zum anderen wurde die Rolle der Europäischen Union im Kontext der demokratischen Devolution thematisiert. Für Selk stellt die Zunahme supra- und transnationaler Politikprozesse einen negativen Sperrklinkeneffekt dar, der die Möglichkeit zur Redemokratisierung blockiert. Kritisch diskutiert wurde diesbezüglich, ob die Prognose Selk’s vielleicht zu pessimistisch sei. Zusätzlich wurde erörtert, ob die Europäische Union nicht auch den Effekt eines positiven Sperrklinkeneffekts für die Demokratie haben kann, indem sie die Demokratien ihrer Mitgliedsstaaten indirekt und direkt stützt. Letztlich zeigte sich in der Diskussion eine grundsätzlich unterschiedliche Bewertung transnationaler Regime, die für die theoretische Reflexion von Standards des Regierens von Belang ist, weil Standards in transnationalen Settings eine herausgehobene Rolle spielen. In ihnen verändern sich Legitimationsanforderungen und -ansprüche, die einer demokratietheoretischen Kritik oder Reflexion bedürfen.

In der abschließenden Diskussion ging es dezidiert um die Rolle der Demokratietheorie. Stefan Meyer legte neben einer Zusammenfassung des besprochenen Kapitels 4 eine Verteidigung der Demokratietheorie dar, der eine Zukunft als Reflexionsinstrument politischer Prozesse trotz aller Probleme durchaus zuzutrauen sei. Anstatt die Demokratietheorie in Gänze zu verwerfen, schlägt er vor, gegenhegemoniale Demokratietheorien zu entwerfen, die den Bezug zur ernüchternden Empirie nicht verlieren, auf den normativen Kern des Begriffs aber nicht verzichten. In der Diskussion um die Zukunft des Demokratietheorie zeigte sich vor allem der Mangel an einer Alternative, auf deren Suche Selk der Politikwissenschaft ja empfiehlt zu gehen. Ob es diese Alternative jedoch braucht, hängt mit der Offenheit des Demokratiebegriffs zusammen, auf empirische Veränderungen zu reagieren ohne dabei den normativen Anspruch zu verlieren. Im Kern kreiste die Debatte um diese Frage.

Im Laufe des Workshops wurde deutlich mit welchen Herausforderungen sich die demokratietheoretische Reflexion von Standards des Regierens konfrontiert sieht. Ein stetiges Hinterfragen der begrifflichen Anforderungen und eine Rückkopplung dieser an die empirische Realität ist notwendig. Die Diskussion mit Veith Selk erinnerte daran, dass Demokratietheorie nicht zu leichtfertig mit ihrem Kernbegriff umgehen sollte.

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